Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

“Natur und Kunst sie scheinen sich zu fliehen”

 
 
 

Natur und Kunst sie scheinen sich zu fliehen,

 

Und haben sich, eh' man es denkt, gefunden;

 

Der Widerwille ist auch mir verschwunden,

 

Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

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Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!

 

Und wenn wir erst in abgemess'nen Stunden

 

Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,

 

Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

 

So ist's mit aller Bildung auch beschaffen:

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Vergebens werden ungebundne Geister

 

Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

 

Wer Großes will muß sich zusammenraffen;

 

In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,

 

Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

 
 

First appeared in Was wir bringen: Vorspiel bei der Eröffnung des neuen Schauspielhauses zu Lauchstädt.

Remarks:

A meditation on Art and Discipline; another self-referential sonnet.